Vom Scheitel bis zur Sohle – Wiener Barbier mit Stil
Es ist 9.00 Uhr und die Wiener Stumpergasse im 6. Bezirk ist noch ruhig. Nichts rührt sich hinter dem Schaufenster der Nr. 52. Die Fotografin und ich treten ein und sind sofort in einer anderen Welt. Der Laden: eine alte zweigeschossige Maßschneiderei für Damen. Doch die Zeiten, in denen es hier um Damenmode ging, sind längst vorbei. Heute ist dies eine reine Männerwelt.
„Mode vergeht, Stil bleibt“ (Coco Chanel)
Es ist die Welt von Thomas Giller. Eine Welt, in der Männer uralten Ritualen frönen und dazu Bier, Whiskey oder Gin Tonic schlürfen. Und eine Welt, in der Männer Bart tragen – zumindest überwiegend. Thomas Giller ist Barbier mit Leidenschaft. In seinem Barber-Shop dreht sich alles um den perfekten Stil, den perfekten Schnitt und die perfekte Rasur. Und natürlich: um Männergespräche.
Bärte sind hip, Schnauzer salonfähig und Barber-Shops ploppen dieser Tage wie Pilze aus dem Boden. „Men only“: Frauen haben in vielen oder gar den meisten keinen Zutritt. Der charmante Wiener Barbier sieht das so streng nicht: „Wir finden es erfrischend, wenn uns Frauen beehren“, sagt er. Dennoch ist weiblicher Besuch selten – schließlich geht Mann am liebsten ohne Begleitung zum Barbier.
„Ohne Schnurrbart ist ein Mann nicht richtig angezogen“ (Salvador Dalí)
Hellgraues Hemd, dunkelgraue Tweed-Weste, schwarze Krawatte, der akkurate Facon-Schnitt sorgfältig nach hinten gekämmt, den Oberlippenbart im Stil der 20er-Jahre getrimmt – Thomas Giller legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Nichts überlässt er dem Zufall. Rasch zieht er den weißen Barber-Mantel über, steckt seinen weißen Kamm in die Brusttasche und wirft einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Sein Credo: „Es zählt der komplette Look, vom Scheitel bis zu Sohle.“
Seit 20 Jahren ist Thomas Giller Friseur. Sechs Jahre arbeitete der Österreicher davon bei „Toni & Guy Deutschland“ in Stuttgart. Als Style- und Artistique-Director stand er hier nicht nur wochentags im Salon, sondern war auch meist an den Wochenenden unterwegs, um in Hamburg oder London Seminare, Shows und Fotoshootings zu leiten. Das war für ihn eine harte Zeit, erzählt er. Um einen neuen Fokus zu setzen, ging Giller zurück nach Wien und eröffnete gemeinsam mit einer Geschäftspartnerin zwei klassische Friseursalons. 2014 kommt schließlich der Barber Shop hinzu, dem er sich seitdem tagtäglich mit Leib und Seele widmet. „Ich brauchte diesen Wechsel in die Männerdomäne, um meine Leidenschaft zum Friseurhandwerk zu bewahren.“
Nostalgisches Flair im historischen Ambiente
Mit seinem Barber-Shop hat sich Giller spezialisiert auf klassische Herren-Haarschnitte der 20er- bis 60er-Jahre, Nassrasuren, das Pflegen und Schneiden von Bärten sowie auf Gesichts- und Kopfmassagen. Er sieht sich als Vorahner in puncto Trends, doch wollte er nie einen Laden ausschließlich für Hipster. „Ich wollte immer einen klassischen, zeitlosen Laden, in dem sich auch Businessmenschen, Familienväter oder Pensionisten wohlfühlen.“
Giller hatte Glück, mit der alten Schneiderei das perfekte Ladenlokal zu finden. Er deutet auf die braun beige gemusterten Bodenfliesen, die Glasvitrinen im Ladenlokal und auf der Galerie, die enge Stahl-Wendeltreppe sowie auf die bodentiefen Innenfenster mit den filigranen Holzrahmen. Die Ausstattung ist aus einem Guss und verleiht dem Laden ein charmant nostalgisches Flair. Giller strahlt und erklärt: „Es ist ein original Wiener Ensemble aus dem Jahr 1927.“
Aus jedem Einrichtungsstück spricht Gillers Liebe zum Detail. Den Waschtisch aus dunklem Holz mit der schweren Marmorplatte habe er extra von einer Tischlerin einpassen lassen. Und die vier weißen Friseurstühle mit den schwarzen Ledersitzen stammen aus Catania in Italien – es sind Repliken aus den 20ern.
Giller öffnet eine der Vitrinen-Türen. Heute steht hier alles, was Mann für die Haar-, Bart- und Gesichtspflege braucht: Shampoos und Tonics, Bartpomaden, -öle und -wachse, Cremes, Eau de Toilette und allerlei Rasur-Utensilien. Während er seinen Laden präsentiert, betreten seine drei Angestellten den Laden: Peter, Flo und Lukas. Auch sie werfen sich ihre Barber-Mäntel über und trinken noch rasch einen Kaffee, bevor es losgeht. Der Ton untereinander ist locker und freundschaftlich.
Inzwischen ist es 9.30 Uhr. Die ersten vier Kunden haben sich eingefunden – alle tragen Vollbart. Sie lassen sich in die Friseurstühle plumpsen und plötzlich ist es so, als würde ein Guckkastenbild zum Leben erwachen. Aus der Anlage röhren die Rolling Stones, Scheren beginnen zu klappern und Rasierapparate zu surren. Und während Kopf- und Barthaare lautlos zu Boden fallen, nehmen Männergespräche langsam Fahrt auf.
Die Kunden genießen sichtlich die Atmosphäre und das Rundum-Pflege-Ritual, zu dem neben dem Schnitt heiße Kompressen, Nassrasur, Gesichtsmassage und Bartpflege gehören. Während sie sich den Profis hingeben, machen wir uns wieder auf den Weg und lassen ein bisschen neidisch den angenehmen Duft von Pomade und Rasierwasser hinter uns. Als wir die Türe sachte schließen, meinen wir leise ein leichtes Aufatmen zu hören. Bärte sind und bleiben eben doch Männersache.
Text: Tania Schneider
Foto: Verena Meier