Der Mann und das Wasser
Als Fischer lebt Olaf Jensen von und mit der Natur. Er ist abhängig von ihr und ihren Launen – auch finanziell. Er arbeitet unglaublich viel, oft zu einer Zeit, in der andere schlafen. Dennoch hat er sich sehr bewusst für diesen Beruf entschieden und dafür sogar sein Studium abgebrochen ...
Heute arbeiten sehr viele Menschen im Innern eines Gebäudes – in einem Büro zum Beispiel, einer Werkstatt oder einem Ladengeschäft. Umso größer ist bei ihnen die Sehnsucht nach dem Draußen, nach der Natur. Soziale Medien wie Instagram sind voll von Bildern vom Meer, von den Bergen oder von Sonnenauf- oder Untergängen. Sie zeigen eine schwärmerische, idealisierte Beziehung zur Natur. Der Hamburger Olaf Jensen sieht den Sonnenaufgang jeden Tag. Ihn zu fotografieren, würde ihm vermutlich nie in den Sinn kommen. Er ist seit mehr als 30 Jahren als kleiner Küstenfischer auf der Elbe und der Schlei unterwegs. Orangefarbene, wasserdichte Kleidung und Schiebermütze schützten ihn vor Nässe und Kälte, während er Stinte, Aale, Zander, Heringe und Wollhandkrabben aus dem Wasser holt. Es gibt nicht mehr viele Fischer wie ihn: In Deutschland verdienen nur noch gut 3.000 Menschen ihr Geld mit Fischfang auf dem Meer, Fluss oder See.
Fischer müssen schneller sein als Kormorane
Für Jensen bedeutet das Leben in der Natur vor allem eins: harte Arbeit. Und das bis zu 16 Stunden und mehr am Tag – oder, genauer, in der Nacht. In der Heringssaison, die Ende Februar, Anfang März beginnt, steht er um 22 Uhr auf und fährt eineinhalb Stunden mit dem Auto an die Schlei, nach Kappeln. Die Schlei ist ein Meeresarm der Ostsee, in dem sich Süß- und Salzwasser vermischen und in den viele Heringe zum Laichen ziehen. Jensen baut dort für sechs Wochen seine Stellnetze auf. Jeden Tag fährt er mit seinem kleinen, weißen Boot, dem „Troll von Kappeln“, zu den Netzen und holt die Heringe raus. Er muss damit fertig sein, bevor die Sonne aufgeht. Denn dann kommen die Kormorane, große, schwarze Vögel, die sich fast ausschließlich von Fischen ernähren. Jensen würde ihnen ja welche abgeben, aber dabei belassen es die Vögel nicht: „Wenn die die vollen Netze sehen, hacken sie alle Fische an“, erklärt er. Wenn er seine Fische verkaufen will – und davon lebt er – muss er schneller sein als die Kormorane.
Jensen ist weit entfernt vom Schwärmen der Städter über die idyllische Natur. Trotzdem nimmt er die aufgehende Sonne bewusst wahr: wie sie plötzlich Hamburg und den Hafen beleuchtet, wenn er auf Höhe von Finkenwerder fischt oder wie sie über dem Sandwall der Halbinsel Schleimünde in die Höhe steigt, wenn er auf der Schlei unterwegs ist. Und es gibt auch für ihn Momente in der Natur, die besonders sind: Damals auf der Schlei zum Beispiel, als er dachte, einen Schwimmer zu sehen, der ans andere Ufer schwamm. Dieser entpuppte sich als Rehbock, der auf der anderen Uferseite an Land stakste, sich kurz schüttelte und weglief. „Ein schöner Moment“, sagt Jensen.
Der einzige Chef ist die Natur. Doch die ist launisch.
Richtig Urlaub macht er nicht. Ein paar Monate im Jahr ist es etwas ruhiger in der Fischerei. Die Zeit nutzt er, um seine Netze und Boote in Ordnung zu bringen und auch mal länger zu schlafen, als die drei Stunden, für die es sonst oft nur reicht. Denn mit dem Fischen allein ist es nicht getan: Jensen räuchert auch selbst, vor allem Aal, Forelle und Butt. Von Mai bis Mitte Oktober verkauft er seine Fische zudem auf dem Hamburger Fischmarkt. Dort trifft man ihn Sonntagmorgen von 6 bis 10 Uhr hinter der Auktionshalle.
Sein einziger Chef ist die Natur. Doch die ist launisch: Das Fischvorkommen ist jedes Jahr anders und abhängig von vielen Faktoren, die er nicht beeinflussen kann, wie der Wassertemperatur und den Nahrungsquellen. Es kann ihm auch mal passieren, dass er mit seinem Boot gar nicht raus kann, wenn es einen harten Winter gibt und das Wasser gefroren ist. Dann hat er auch kein Einkommen. Er nimmt es, wie es kommt. „Mir geht es dann wie einem Eichhörnchen. Wenn nichts Anderes mehr da ist, gibt es eben nur noch Notrationen“. Von der Natur abhängig zu sein, ist Teil seines Berufes. Von Menschen abhängig zu sein, ist dagegen nicht sein Ding. Als Selbstständiger redet ihm niemand rein, kein Chef und keine Kollegen. Trotzdem haben andere Menschen Einfluss auf seine Arbeit: Indem sie Fangquoten festlegen zum Beispiel, die für Küstenfischer wie ihn existenzgefährdend sein können. Wenn die Quoten erheblich gesenkt werden, was aktuell beim Ostseedorsch der Fall ist, können die kleinen Fischer an der Küste nicht einfach auf eine andere Fischart ausweichen, wie es die großen Kutter auf dem Meer tun. Sie sind auf die Fischarten angewiesen, die in Küstennähe oder in die Flüsse kommen. Sie haben keine Alternative. Dazu kommt die ausufernde Bürokratie: Der Fischerei-Verband schimpft auf die komplizierte EU-Gesetzgebung, die es Fischern fast unmöglich macht, alle Regeln einzuhalten. So ist es verboten, kleine Fische, die mit im Netz gelandet sind, zurück ins Meer zu werfen. Aber verkaufen dürfen die Fischer sie auch nicht. Was sie dann mit dem Beifang machen, ist ihr Problem. Auch die geplante Elbvertiefung hätte für die Fischer negative Folgen: eine stärkere Strömung, wegfallende Fangplätze und einen veränderten Sauerstoffgehalt des Wassers, mit dem nicht mehr alle Fische klarkämen.
Ungewissheit macht es spannend
Den Fischern wird es nicht leicht gemacht. Dabei sind ihre Perspektiven eigentlich nicht schlecht: die Nachfrage nach wild gefangenem Fisch ist stabil bis steigend, die Preise gut. Jensen schätzt am Fischen nicht nur die Freiheit, sondern auch die Ungewissheit, die das Fischen bringt. Was wird heute im Netz sein? Einmal war es ein 50 Kilo schwerer kanadischer weißer Stör. Er geht zwar nicht so weit wie manche Kollegen und ruft gleich alle an, um von seinem tollen Fang zu erzählen, aber gefreut hat er sich doch.
Dabei wäre Jensen beinahe in einem Büro statt auf dem Fischerboot gelandet: Er studierte Sozialwissenschaften und publizierte schon während des Studiums erste Aufsätze, zum Beispiel einen Beitrag über die Demokratie in Dänemark. Ein Land, in dem er als Kind einige Jahre gelebt und oft seine Ferien verbracht hat. Aber Dänemark hat ihn schließlich auch weg von den Wissenschaften, hin aufs Wasser gebracht: Ein Nachbar ist mit ihm regelmäßig Fischen gegangen und hat ihn dafür begeistert. In seiner Familie gibt es außer ihm niemanden, der diesen Beruf ausübt. Doch seine Mutter ist eine gebürtige „Fischer“ und er sagt lachend, dass da vielleicht irgendwelche ganz alten Gene wieder durchgekommen sind.
Und so wird Jensen jetzt, im kalten, norddeutschen November wieder in den frühen Morgenstunden losziehen und den Zander aus seinen Stellnetzen in der Elbe holen. Dann wird er die Ruhe auf dem Boot genießen und die Zeit alleine in der Natur, bevor die Stadt erwacht. Gegen sechs Uhr beginnt um ihn herum der Schiffsverkehr. Die Elbe ist eine stark frequentierte Schifffahrtsstraße, doch eine Weile hatte er sie fast für sich alleine.
Text: Monika Herbst
Foto: Verena Meier