„Deutschland ist wie ein alter Schuh, der immer noch passt“
Eigentlich wollte sie reisen und die Welt entdecken. Im Februar 2011 zog Mai Etl los – gemeinsam mit ihrem Partner und einem Work & Travel-Visum. Sie flogen erst nach Südostasien, dann nach Australien. Dort nahmen ihre Reisepläne ein unerwartetes Ende.
In Melbourne ist es heiß, 35 Grad. Mai Etl, kurze, dunkle Haare, große Hornbrille, sitzt auf der Couch. Unter ihrem blau-weiß gestreiften Top wölbt sich ein Babybauch. Sie ist in der 38. Woche schwanger. Die Hitze macht ihr etwas zu schaffen. Sie hat die Füße hochgelegt und nimmt einen Schluck aus ihrer Flasche mit Maracuja-Mango-Orangensaft. Seit fast sechs Jahren lebt die heute 36-Jährige in der Vier-Millionen-Einwohner-Stadt Melbourne, im Süden Australiens. In der dortigen Kieser-Zentrale leitet sie Aus- und Weiterbildung sowie Qualitätssicherung.
Mai Etl heißt eigentlich Thanh-Mai Etl. Sie ist Halbvietnamesin. Ihr Vater ist Deutscher, ihre Mutter Vietnamesin. Aufgewachsen in der niedersächsischen Kleinstadt Celle wollte sie schon lange das Land ihrer Mutter richtig kennenlernen. Aber irgendetwas hielt sie immer ab: erst das Sportwissenschafts-Studium in Köln, dann die Selbstständigkeit als Personal Trainerin und schließlich die Stelle an der Kölner Uni, am Institut für Bewegungstherapie. Sie liebäugelte mit Work & Travel, einer Verbindung aus Jobben und Reisen. Für das Visum gilt allerdings eine Altersgrenze von 30 Jahren, deswegen war Mai Etl klar: jetzt oder nie. Sie kündigte ihre Stelle, löste ihr Apartment auf und reiste gemeinsam mit ihrem jetzigen Ehemann Balu Etl sechs Monate durch Kambodscha, Vietnam und Thailand.
Australische Chefs gehen sanfter mit Mitarbeitern um
Es rappelt an der Tür. Ihr Mann kommt nach Hause. Balu Etl trägt Vollbart – und ein dunkelblaues Hemd, die Dienstkleidung bei Kieser. Er ist ebenfalls Sportwissenschaftler und leitet eines der mittlerweile neun Kieser Training-Studios in Australien. Jetzt kümmert er sich ums Abendessen. Er schält Süßkartoffeln. Dazu gibt es Gemüse – Reste vom Wochenende.
Dass beide heute bei Kieser Training in Australien arbeiten, ist Zufall: Nachdem sie monatelang durch Asien gereist waren, flogen sie nach Melbourne und machten sich erst einmal auf die Suche nach Jobs. Zufällig lief Mai Etl an einem Kieser Training-Studio vorbei. Für sie ein Stück Deutschland in der Fremde. Warum nicht in ihrem Beruf jobben? Sie spazierte mit ihrem Lebenslauf in der Hand in das Studio, sagte „Hi, I'm looking for a job“–und unterschrieb zwei Wochen später den Vertrag für eine Vollzeit-Stelle. Die Manager bei Kieser Training in Australien wollten zu dem Zeitpunkt die Zusammenarbeit mit den Unis intensivieren – eine Sportwissenschaftlerin mit Forschungserfahrung kam da gerade recht. Und so verschoben die beiden ihre Reisepläne, ihr Mann jobbte erstmal.
Das ist inzwischen sechs Jahre her. Mai Etl genießt die australische Weite, die Lockerheit und die vielen Sonnentage. „Work hard, play hard“ – so beschreibt sie die Lebensphilosophie der Australier. Einerseits arbeiten die Menschen viel, treiben Dinge voran. Andererseits geht es dabei spaßig zu und nicht immer wird die Arbeit so ernst genommen, wie in Deutschland. Sie erzählt, dass die australischen Chefs sanfter mit ihren Mitarbeitern umgehen, weniger eindeutig, weil sie niemandem auf die Füße treten wollen. Ihr selbst ist Klarheit lieber. Wegen ihrer direkten Art sagen ihre australischen Kollegen „she is running a tight ship“, also sie ist jemand, der das Ruder fest in der Hand hält.
Beim Kiten fühlt sie sich anfangs wie ein Teebeutel
Fest in der Hand hält sie auch den Lenkdrachen beim Kitesurfen, zumindest, wenn sie nicht gerade schwanger ist. Das Kitesurfen hat Mai Etl vor acht, neun Jahren für sich entdeckt und in Australien richtig damit angefangen. In Melbourne geht das Kiten nicht immer, dafür ist der Wind nicht konstant genug. Deswegen ärgert sie sich, wenn am Nachmittag Wind aufkommt und sie im Büro festsitzt. Doch einmal die Woche schafft sie es eigentlich immer aufs Brett – zumindest vor der Schwangerschaft. Sie liebt das Spiel mit dem Wind und das Tempo. Das Kiten zu lernen, hat sie einige Mühe und Nerven gekostet. Lachend erzählt sie, dass man sich bei den ersten Malen wie ein Teebeutel fühlt, der ständig ins Wasser getaucht und wieder rausgeholt wird. Die Schwierigkeit beim Kiten ist es, die Bewegungen der Arme und Beine zu koordinieren. Anfangs ist der Wind der Chef und man kann nur in eine Richtung fahren. Zurück muss man dann zu Fuß am Strand, über den „walk-of-shame“, den Weg der Scham, wie es in der Surferszene spöttisch heißt. Die erste Saison war anstrengend, in der zweiten hatte sie soweit die Kontrolle über Lenkdrachen und Board gewonnen, dass sie selbst bestimmen konnte, wohin sie fährt – so wie sie es mag.
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Die Grillen zirpen. Mai Etls Katze springt auf die hellgrüne Decke, die über die Couch gebreitet ist. Sie balanciert auf der Couchlehne, buhlt um Aufmerksamkeit.
„Inzwischen würden wir immer etwas vermissen, egal wo wir leben“
Ihr Frauchen wird nachdenklich, sie spricht über Heimat. Sie lässt längere Pausen zwischen den Sätzen, sucht nach Worten. „Inzwischen würden wir immer etwas vermissen, egal wo wir leben“, sagt sie. Die Menschen, das Land, den Alltag – in Deutschland genauso wie in Australien. Manchmal wird sie in der Weihnachtszeit melancholisch. Das Fest wird mitten im australischen Hochsommer gefeiert. Überall gibt es Plastikdekoration, weil alles andere bei 40 Grad nicht überleben würde. „Die Weihnachtsmänner hier sterben an Hitzschlag“, witzelt Etl. Ihr fehlen die Treffen mit Freunden zum Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt. Wenn sie dann in der Adventszeit in das kalte, regnerische Deutschland fliegt, dann fällt ihr auf, dass alle miesepetrig gucken und der Mann an der Passkontrolle ziemlich unfreundlich ist. Aber dennoch: Es fühlt sich für sie an wie ein alter, bequemer Schuh, den sie lange nicht anhatte, der aber immer noch wie angegossen passt. Seit sie ein Baby erwartet, hat Heimat für sie einen neuen Stellenwert. Ihr ist bewusst, dass ihr Kind, sollte es in Australien aufwachsen, bei einem Besuch in Deutschland in einem ungewohnten Umfeld wäre. Als würde es einen Schuh anziehen, der nicht so gut passt. Vielleicht ziehen sie eines Tages zurück. Aber jetzt noch nicht, dafür ist es in Australien einfach zu schön.
Anmerkung: Das Gespräch fand bereits Ende Februar statt. Mittlerweile ist Mai glückliche Mutter einer Tochter.
Text: Monika Herbst
Foto: Verena Meier