„Man muss dem Körper auch etwas zurückgeben“
Nach einem Herzinfarkt verliert Johannes Bernstein das Vertrauen in seinen Körper. Doch das schlimme Erlebnis ist für ihn gleichzeitig eine Chance – und er nutzt sie.
Seine Wege legt Johannes Bernstein immer mit dem Fahrrad zurück. So auch an dem Tag vor acht Jahren: Es ist ein grauer Spätnachmittag im Februar. Bernstein hat um 16 Uhr Feierabend. Er macht sich mit dem Fahrrad auf den Heimweg. Schon beim Losfahren merkt er, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück hat er es nicht weit, nach einem Kilometer ist er Zuhause. Dort angekommen, fängt er an zu schwitzen. Seine Frau merkt, dass es ihm schlecht geht und ruft den Krankenwagen. Er bekommt stechende Schmerzen, so als würde jemand mit einem Messer auf ihn einstechen. Das Rettungsteam versorgt ihn mit starken Schmerzmitteln und bringt ihn ins Krankenhaus. „Dort erwarteten mich schon unzählige Menschen“, erinnert er sich. Johannes Bernstein hat einen Herzinfarkt. Ein Notfall. Bei einem Infarkt verschließen Gerinnsel ein Blutgefäß des Herzens. Das Herz wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Die Durchblutung muss so schnell wie möglich wieder hergestellt werden. Ist das nicht der Fall, stirbt immer mehr des betroffenen Muskelgewebes ab.
Die Schmerzmittel wirken, Bernstein wird ruhiger. Er wird mit einem Herzkatheter untersucht. Die Blutgefäße werden aufgedehnt und mit einer Stütze aus Edelstahl (Stent) gesichert. Drei solcher Stents werden ihm eingesetzt. Zwei Wochen lang muss er im Krankenhaus bleiben. Zu erleben, wie der eigene Körper einfach aussteigt, bedeutet einen tiefen Einschnitt in seinem Leben.
„Ich habe normal gelebt“
Johannes Bernstein ist heute 64 Jahre alt, trägt einen grauen Vollbart und wenn man ihn trifft, hat er entweder eine Kippa oder eine andere Kopfbedeckung auf. Der gebürtige Schweizer hat 20 Jahre seines Lebens in Israel verbracht, ist dort zum Judentum konvertiert. Heute lebt er in Zürich und spricht mit dem für die Schweiz so typischen weichen Singsang. Ans Ende seiner Sätze hängt er oft ein fragendes „oder?“, bei dem er das „e“ verschluckt. Bernstein ist gelernter Konditor, er arbeitet für ein Catering-Unternehmen, nebenbei berät er Unternehmen in Lebensmittelfragen. Er hat viel zu tun. Gerade kommt er von einem Kunden aus England zurück.
Der Infarkt traf Johannes Bernstein damals völlig überraschend. Hatte er viel Stress, als es passiert ist? „Ich habe normal gelebt“, sagt er. Sportarten wie Schwimmen oder Turnen hat er keine betrieben. Aber er war immer mit seinem Fahrrad unterwegs. „Ich habe früher mal geraucht, aber ich hatte damit aufgehört“. Aber im Nachhinein sagt er doch: „Ich habe schon auch Stress gehabt“. Vieles war mental. Erst nach dem Infarkt hat er gelernt, nicht mehr alles an sich rankommen zu lassen, nicht jede Kleinigkeit „aufs Goldplateau zu legen“, wie er sagt. Heute ist ihm klar: „Ich habe zu wenig auf meinen Körper geachtet. Man kann den Körper nicht einfach immer nur nutzen. Man musst ihm auch etwas zurückgeben und ihn unterstützen.“
Jede Steigung, die er mit dem Fahrrad bewältigt, ist ein Erfolg
Nach dem Herzinfarkt fängt er ganz langsam an, sich wieder zu belasten. „Der Herzmuskel war zum Teil abgestorben. Dabei verliert man viel Kraft“, erklärt er. Im Krankenhaus ist er noch so schwach, dass er nach dem Aufstehen gleich wieder zurück ins Bett muss. In den vier Wochen Reha findet er langsam wieder zurück ins Leben. Doch es dauert, bis er wieder fit ist. In der ersten Zeit nach der Reha freut er sich, wenn er mit dem Fahrrad einen Kilometer schafft. Die kleinste Steigung, die er bewältigt, ist ein Erfolg.
Damals wurde ihm klar, dass er seinem Körper etwas zurückgeben möchte. Krafttraining zu machen war lange ein Traum von ihm. Bernstein wohnt in der Nähe eines Kieser Training-Studios. Drei Jahre nach seinem Herzinfarkt wurde er dort Mitglied. Am Anfang hatte er Angst, sich zu stark zu belasten. Er fing langsam und mit wenig Gewicht an. „Ich habe beim Rausgehen aus dem Studio gemerkt, dass es mir jedes Mal besser ging“, erzählt er. Er steigerte nach und nach das Gewicht und gewann Kilo um Kilo das Vertrauen in seinen Körper zurück. Heute kann er sich wieder voll belasten. Sein Herzmuskel hat sich zu 90 Prozent wieder erholt.
Er sieht es als Pflicht, künftig auf sich und seinen Körper gut achtzugeben. Er versucht, gesünder zu essen, ruhig zu bleiben und nicht alles so ernst zu nehmen. In seinem weichen Schweizerisch sagt er: „Es geht auch mal ohne mich, oder?“
Text: Monika Herbst
Fotos: Verena Meier