Querflötist mit Rückgrat
Das Loft im hippen Stadtteil Köln-Ehrenfeld im Westen der Stadt wirkt verschlafen an diesem Sonntagnachmittag im September. Vereinzelt dringen von drinnen Klaviertöne in das weiß getünchte Industrietreppenhaus, tröpfeln über die rohen Betonstufen und verhallen. Drinnen im Konzertsaal spielt ein Student auf einem Flügel. Einem großen Steinway D Konzertflügel. Energisch betritt Hans Martin Müller das Foyer und ruft resolut quer durch den Raum: „Mensch, der ist frisch gestimmt. Hämmer da nicht so drauf rum!“
Das Kölner Loft in der zweiten Etage der ehemaligen Parfümfabrik gilt Kennern als Oase für Jazz, improvisierte und zeitgenössische Musik und bietet vor allem jungen Nachwuchsmusikern eine Bühne. Nach Meinung der britischen Zeitschrift „The Guardian“ gehört es zu den besten Jazz Clubs Europas. Ohne Hans Martin Müller gäbe es diesen Ort nicht. Müller ist Jazzliebhaber und Orchesterflötist, Gründer und Eigentümer des Loft. Während seine Karriere als Orchestermusiker von Anfang an ziemlich glatt lief, musste er für sein Loft so manches Mal den Weg freiboxen. Doch glücklicherweise ist Müller nicht nur begnadeter Musiker, sondern auch ein Macher. Ein gar nicht zimperlicher und kräftig zupackender zudem.
Vom Presslufthammer zur Querflöte
Schwarzer Frack, weißes Hemd, weiße Fliege – zackig durchschreitet Müller seinen kleinen Konzertsaal im Loft, lässt die Jalousien herunter, um den wertvollen Steinway vor der Sonne zu schützen. Dann packt er seine Querflöte aus, stellt sich in die Mitte des Raumes, setzt das Mundstück an, spielt ein paar klassische Töne. Und Zack: Für den Bruchteil von drei Takten wendet sich der Blick durch die Gläser der randlosen Brille nach innen und Müller taucht ab in die Sphären der Musik.
Seine kräftigen Hände kontrastieren mit der filigranen Querflöte. Müller setzt das Instrument ab und sagt stolz: „Ich habe hier fast alles selbst gebaut. Nur deshalb existiert das Loft“. Seine handfeste zupackende Art verwundert nicht: Hans Martin Müller stammt aus einer Bergmannsdynastie aus dem Ruhrpott. „Eineinhalb Jahre stand ich bei einem Praktikum unter Tage vor dem Presslufthammer, bevor ich in Aachen Bergbau studiert hab.“ Müller sagt das mit voluminöser, lauter Stimme. Er ist ein wenig schwerhörig. Das liegt seiner Ansicht nach weniger am Presslufthammer, als vielmehr an den hohen Dezibel im Orchestergraben.
Zur Musik kam Müller schon während der Schulzeit: Als Saxophonist und Flötist spielte er in verschiedenen Bands. 1971 trat er mit seiner Band „Schacht IV“ im Talentschuppen der ARD auf. Es folgte ein Konzert im Schlosshof in Moers, womit er zum Wegbereiter des bekannten Moerser Jazzfestivals wird. Als 1972 das erste Jazzseminar an der Kölner Musikhochschule an den Start geht, schmeißt Müller das Bergbaustudium und beschließt, sich ganz der Musik und dem Jazz zu widmen.
Er meldet sich zur Aufnahmeprüfung in Köln. „Ich war Autodidakt und hatte die Stücke bislang nur nachgespielt. Ich wollte Jazz lernen“, erinnert er sich. Wieder setzt er die Querflöte an. Wieder spielt er ein paar Takte. Dieses Mal ist es Jazz. Sofort beginnen seine Augen zu leuchten, sein ganzes Gesicht zu strahlen. Er setzt das Instrument ab und erzählt lachend, dass dann doch alles anders kam. Da Saxophon kein Kulturinstrument ist, musste Müller die Aufnahmeprüfung im Fach Flöte machen. Er wird angenommen und gewinnt nur ein halbes Jahr später den Hochschulpreis der Kölner Musikhochschule im Fach Flöte. „Seitdem bin ich solider Orchesterflötist. Als Perfektionist habe ich das eine auf die Spitze getrieben und das andere gelassen.“
Ein Leben für die Musik
Fortan widmet Müller sein Leben der Musik: 39 Jahre arbeitet er als stellvertretender Soloflötist im WDR Sinfonieorchester in Köln, ist darüber hinaus acht Jahre Soloflötist des Bayreuther Festspiel Orchesters und spielt als Soloflötist oder Solist in zahlreichen Kammerorchestern. Die Nachwuchsförderung war ihm schon immer ein wichtiges Anliegen. Als Dozent an der Kölner Musikhochschule betreute er 25 Jahre Studenten im Hauptfach Flöte, als langjähriges Vorstandsmitglied des WDR Sinfonie Orchesters und Mitglied des Personalrates setzte er sich für die Interessen seiner Kollegen ein.
Den Jazz kann er dennoch nicht lassen: Und so gründet er 1986 das Loft. Die ersten Räume bezieht er damals in einer einfachen Werkstatt im Kölner Kunibertsviertel. Sein Ziel: Der Ort sollte ihm als Arbeitsraum und anderen Musikern als Freiraum dienen. Doch anfangs läuft nicht alles rund. Der kreischende Hobel der Tischlerei im Erdgeschoss stört zwar keinen der Musiker. Die Musik jedoch, die stört seinen Nachbarn, den Maler Sigmar Polke.
Müller zieht die Augenbrauen hoch und die Stirn kraus. Dann sagt er: „Bei persönlicher Musik wurde der Polke wahnsinnig.“ Verstanden habe er das, doch verziehen habe er dem Maler dessen Art nie. Müller lacht und guckt spitzbübisch. Sein Vater war ein Topmanager, der ihn früh unternehmerisches Denken lehrte. Statt also dem Maler die Flötentöne beizubringen, kassiert Müller lieber dessen Abfindung und sucht sich neue Räume, die er 1987 mietet, 1988 kauft und seitdem immer wieder aus- und umbaut. Müller kauft den Steinway und startet den regelmäßigen Konzertbetrieb im Kölner Stadtteil Ehrenfeld.
Durchsetzen muss er sich auch hier: „Früher war das hier eine raue Gegend“, sagt er. „Und ich war ein rauer Kerl.“ In der „Ruine“, einer Kneipe gegenüber, trafen sich donnerstags die Punks. „Fünfmal kamen die, um meinen Laden aufzumischen.“ Müller tauscht Querflöte gegen Baseballschläger und verteidigt sich und sein Loft. Zimperlich ist er nicht, der Musiker, der selbst in den ersten Jahren seiner Orchesterlaufbahn noch als Schwergewicht geboxt hat.
Die Kölner Musikszene scheint dankbar für das, was Müller für das Loft leistet und geleistet hat. Und er selbst ist der Szene dankbar für deren Engagement: Als die Stadt 2011 aus Brandschutzgründen eine Feuertreppe fordert, steht die Existenz seines Lofts auf dem Spiel. Müller versteht das nicht und versucht sich zu wehren. Als alles Argumentieren bei den Behörden nicht hilft, organisieren Kölner Musiker ein Solidaritätskonzert. „900 Leute waren da und haben gezeigt, dass sie diesen Ort wollen. Vielleicht hat auch diese Aktion dazu geführt, den Bau der Treppe letztendlich zu genehmigen – nicht zu bezahlen. Die, die eigentlich fast nichts haben, die freien Musiker, haben 12.000 Euro gespendet. Für die doofe Treppe“, sagt Müller. Er lacht und sieht glücklich aus über soviel Rückendeckung aus der Szene.
Bundesverdienstkreuz für den Loftbetreiber
Dank Müllers 27 Jahre langen Einsatzes entwickelt sich sein Loft zu dem, was es heute ist. „Der Ort ist nicht nur ein offener Raum für Examenskonzerte, erste Gehversuche, Experimente oder Produktionen der Kölner Szene, sondern bietet auch international bekannten Musikern eine Bühne“, sagt Müller und nennt Namen wie Dave Douglas, Bobby Previte, oder Alexander von Schlippenbach.
2015 erhält Müller für sein Engagement für den Jazz und die freie Musikszene das Bundesverdienstkreuz. Er schmunzelt: „Ich hab erst mal nach der versteckten Kamera gesucht, als ich den Brief im Hausflur öffnete. Dann hab ich gedacht: Guck mal, geht doch.“
Text: Tania Schneider
Foto: Verena Meier